Renn!
19. März 2090
Heute war wieder ein verrückter Tag in Neo-Tokio. Ich bin früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang über den Wolkenkratzern zu sehen. Die Stadt ist nie still, aber in den frühen Morgenstunden gibt es eine Art Ruhe, die ich besonders mag. Die Straßenlaternen fangen an, sich abzuschalten, und die ersten Hologramme beginnen, sich über den Dächern zu materialisieren.
Ich habe mich auf den Weg zum Markt gemacht, um ein paar Ersatzteile für mein altes Cyberdeck zu besorgen. Der Markt ist immer ein Abenteuer – man weiß nie, was man finden wird. Heute habe ich ein paar coole Gadgets entdeckt, die ich vielleicht in mein nächstes Projekt einbauen kann.
Als ich durch die engen Gassen ging, sah ich eine Gruppe von Street-Samurais, die sich mit einem rivalisierenden Gang schlugen. Ich habe mich schnell verdrückt – ich will nicht in solche Auseinandersetzungen verwickelt werden. Die Polizei-Drohnen waren auch schon unterwegs, um die Situation zu klären.
Nach dem Markt bin ich zu meinem Freund Kaito gegangen. Er ist ein Meister darin, Cyberware zu modifizieren, und ich brauche seine Hilfe, um mein Deck aufzurüsten. Wir haben uns stundenlang über die neuesten Sicherheitspatches unterhalten und geplant, wie wir sie umgehen können.
Abends bin ich in einen virtuellen Club gegangen, um ein paar Freunde zu treffen. Die Musik war laut, und die Avatare waren atemberaubend. Es ist immer faszinierend, wie die Leute sich in der virtuellen Welt ausdrücken.
Jetzt sitze ich in meinem kleinen Apartment und schaue aus dem Fenster. Die Stadt leuchtet wie ein riesiger Organismus, der nie schläft. Ich liebe es hier – es ist das Herz der Welt, und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein.
Bis morgen, Renn
20. März 2090
Manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich zur Schule gehen würde wie die Kids aus den oberen Bezirken. Die Holo-Werbung zeigt sie immer in schicken Uniformen, mit glänzenden Cyber-Implantaten und Tablets, die mehr Rechenleistung haben als mein ganzes Cyberdeck. Aber hier unten, im Unterstadt-Distrikt, sieht die Realität anders aus.
Ich habe mal versucht, mich in einen Online-Kurs einzuschreiben – so einen dieser kostenlosen “Bildung für alle”-Programme. Es hat genau zwei Tage gedauert, bis ich gemerkt habe, dass der Kurs nur eine Fassade war. Die Datenbanken waren voller Werbung und Spyware, und die “Lehrer” waren eigentlich nur KI-Programme, die nichts anderes gemacht haben, als vorgefertigte Antworten runterzurattern. Ich hab’s aufgegeben. Lernen muss man hier anders – auf der Straße.
Heute habe ich wieder eine Lektion gelernt: Vertrauen ist teuer. Auf dem Markt habe ich einen Typen getroffen, der behauptet hat, er hätte ein Upgrade für mein Cyberdeck – ein Modul, das angeblich meine Verbindungsgeschwindigkeit verdoppeln würde. Klang zu gut, um wahr zu sein. Und weißt du was? War es auch.
Kaum hatte ich das Ding eingebaut, hat mein Deck angefangen zu spinnen. Irgendwas hat sich in meine Systeme gehackt und versucht, meine Daten zu klauen. Zum Glück habe ich schnell reagiert und das Modul rausgerissen, bevor es schlimmer wurde. Aber das war knapp. Kaito hat mir später erklärt, dass solche “Angebote” oft Fallen sind – besonders für Leute wie mich, die nicht viel Geld haben und ständig nach einem Vorteil suchen.
Abends bin ich an einer alten Schule vorbeigekommen. Das Gebäude war verlassen und halb eingestürzt, aber man konnte noch die verblassten Graffitis an den Wänden sehen: “Wissen ist Macht.” Irgendwie hat mich das zum Nachdenken gebracht. Vielleicht stimmt das ja wirklich – aber hier unten ist Wissen nur dann Macht, wenn du weißt, wie du es einsetzt.
Ich hab beschlossen, mir morgen ein paar alte Datenchips zu besorgen und zu sehen, ob ich daraus was lernen kann. Vielleicht finde ich ja etwas Nützliches – oder zumindest etwas Interessantes.
Bis dann,
Renn
22. März 2090
Ich weiß nicht, wie ich das hier aufschreiben soll. Meine Hände zittern immer noch, und mein Herz fühlt sich an, als würde es aus meiner Brust springen. Heute war… brutal. Ich habe schon einiges gesehen in Neo-Tokio – Kämpfe zwischen Gangs, korrupte Cops, Menschen, die alles verlieren, was sie haben. Aber das hier… das war anders.
Es fing ganz normal an. Ich war unterwegs, um ein paar Ersatzteile zu besorgen – nichts Großes, nur ein paar Kabel und Chips für ein Projekt, an dem ich arbeite. Die Gassen im Unterstadt-Distrikt sind immer voll mit Leuten: Händler, die ihre Waren verkaufen, Kinder, die umherlaufen, und zwielichtige Gestalten, die besser nicht zu lange in deine Richtung schauen sollten. Ich dachte mir nichts dabei.
Dann hörte ich die Schreie.
Zuerst dachte ich, es wäre nur eine weitere Auseinandersetzung zwischen Gangs – das passiert hier ständig. Aber als ich näher kam, sah ich sie: eine Gruppe von Typen in schwarzen Anzügen mit leuchtenden roten Augen-Implantaten. Sie waren keine gewöhnlichen Straßenkämpfer. Das waren Söldner – wahrscheinlich angeheuert von irgendeinem Megakonzern. Und sie hatten jemanden erwischt.
Es war ein Mann – vielleicht Mitte vierzig – mit einer Cyberprothese am rechten Arm. Er sah aus wie ein Techniker oder vielleicht ein Netrunner. Sie hatten ihn in die Ecke gedrängt und stellten ihm Fragen. Ich konnte nicht hören, worum es ging, aber er schüttelte immer wieder den Kopf. Und dann… dann haben sie ihn einfach erschossen.
Kein Zögern, kein Nachdenken. Ein einziger Schuss aus einer Waffe mit Schalldämpfer, und er fiel zu Boden wie eine Puppe ohne Fäden. Die Leute um mich herum erstarrten; niemand wagte es, sich zu bewegen oder auch nur hinzusehen. In der Unterstadt weiß jeder: Wenn du dich einmischst, bist du der Nächste.
Ich wollte weglaufen – wirklich –, aber irgendwas hat mich dazu gebracht, stehen zu bleiben und genauer hinzusehen. Die Söldner durchsuchten den Mann und nahmen etwas aus seiner Tasche – einen kleinen Datenchip. Es musste wichtig sein, wenn sie dafür jemanden umgebracht haben.
Ich habe mich so leise wie möglich zurückgezogen und bin durch die Gassen gerannt, bis ich sicher in meinem Apartment war. Jetzt sitze ich hier und frage mich: Was war auf diesem Chip? Und warum war es so wertvoll? Ich meine… wenn jemand bereit ist zu töten, um es zu bekommen, muss es doch etwas Großes sein, oder?
Ich kann den Anblick des Mannes nicht vergessen – wie er da lag, ohne Leben in den Augen. Es macht mir klar: Diese Stadt frisst dich auf, wenn du nicht aufpasst. Aber gleichzeitig… irgendwas in mir sagt mir, dass ich herausfinden muss, was hier los ist.
Vielleicht sollte ich Kaito fragen. Er hat Kontakte und könnte wissen, wer diese Typen waren oder was auf dem Chip gewesen sein könnte. Oder vielleicht sollte ich einfach vergessen, dass das alles passiert ist – so wie alle anderen hier unten.
Ich weiß es nicht.
Bis später,
Renn
24. März 2090
Ich weiß nicht, wie ich in diese Situation geraten bin, aber heute habe ich zwei Menschen getroffen, die so anders waren als alle, die ich bisher in Neo-Tokio kennengelernt habe. Es war gefährlich, seltsam – und irgendwie faszinierend.
Es begann in einer heruntergekommenen Lagerhalle am Rand des Unterstadt-Distrikts. Kaito hatte mir von einem “Treffen” erzählt, bei dem angeblich Informationen über einen neuen Megakonzern-Leak gehandelt werden sollten. Ich wollte eigentlich nicht hingehen – solche Treffen sind nie sicher –, aber meine Neugier hat gesiegt. Also habe ich mein Cyberdeck eingepackt und bin hingegangen.
Die Halle war düster und roch nach Öl und verbranntem Plastik. Die Teilnehmer waren eine bunte Mischung aus Netrunnern, Söldnern und zwielichtigen Gestalten. Doch zwei Personen stachen heraus: ein Mann aus Deutschland namens Lukas und eine Frau aus der Türkei namens Ayşe. Beide wirkten nervös, aber entschlossen.
Lukas war ein ehemaliger Konzern-Techniker, der angeblich brisante Daten über illegale Experimente von Arasaka mitgebracht hatte. Ayşe war eine Aktivistin, die für eine Untergrundbewegung arbeitete, die sich gegen die Korruption der Megakonzerne stellte. Sie hatten sich über verschlüsselte Kanäle verabredet und wollten hier ihre Informationen austauschen – doch es lief nicht wie geplant.
Kaum hatten sie angefangen zu reden, stürmten bewaffnete Männer die Halle. Sie sahen aus wie Konzern-Söldner – wahrscheinlich Arasaka oder Militech. Die Menge geriet in Panik; einige versuchten zu fliehen, andere zogen Waffen. Ich duckte mich hinter eine Kiste und beobachtete das Chaos.
Lukas und Ayşe kämpften sich durch die Menge. Ayşe hatte einen kleinen EMP-Emitter dabei, den sie aktivierte, um die Cyberware der Angreifer kurzzeitig lahmzulegen. Lukas schrie ihr zu, sie solle ihm folgen, während er mit einem improvisierten Hack versuchte, die Sicherheitssysteme der Halle zu manipulieren.
Ich wusste nicht genau, warum ich es tat – vielleicht war es der Adrenalinschub –, aber ich sprang auf und half ihnen. Mit meinem Cyberdeck gelang es mir, eine Tür zu öffnen, durch die wir entkommen konnten. Wir rannten durch die dunklen Gassen der Stadt, bis wir uns in einem verlassenen Gebäude verstecken konnten.
Dort erzählten sie mir ihre Geschichte: Lukas wollte die Daten veröffentlichen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ayşe plante, sie ihrer Bewegung zu übergeben, um Druck auf die Konzerne auszuüben. Beide wussten, dass sie damit ihr Leben riskierten – aber sie waren bereit dazu.
Ich konnte nicht anders als bewundern, wie mutig sie waren. In einer Welt wie dieser ist es selten, Menschen zu treffen, die wirklich für etwas kämpfen. Wir tauschten Kontaktinformationen aus und beschlossen, uns wieder zu treffen – wenn wir überleben.
Jetzt sitze ich hier und frage mich: Habe ich gerade Freunde gefunden? Oder habe ich mich in etwas hineingezogen, das mich irgendwann das Leben kosten könnte?
Bis morgen,
Renn
25. März 2090
Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, wie verrückt es ist, dass ich in dieser Stadt so viele Menschen aus der ganzen Welt treffe. Neo-Tokio ist ein Schmelztiegel – ein Ort, an dem Kulturen, Sprachen und Geschichten aufeinanderprallen. Aber die Umstände, unter denen ich diese Leute kennenlerne, sind meistens… na ja, sagen wir mal: nicht gerade normal.
Ich erinnere mich an Ayşe aus der Türkei und Lukas aus Deutschland, die ich vor ein paar Tagen getroffen habe. Sie waren so unterschiedlich – Ayşe war leidenschaftlich und kämpferisch, Lukas eher analytisch und vorsichtig. Und doch hatten sie etwas gemeinsam: Beide waren hier, weil sie gegen das System kämpfen wollten. Es hat mich beeindruckt, wie weit sie gereist sind, um ihre Ziele zu verfolgen. In einer Welt wie dieser ist das nicht selbstverständlich.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich solche Begegnungen hatte. Vor ein paar Wochen habe ich einen brasilianischen Netrunner getroffen, der behauptete, er hätte einen Weg gefunden, die Firewalls von Arasaka zu knacken. Und dann war da noch eine Frau aus Nigeria, die mir beigebracht hat, wie man alte Cyberware recycelt und daraus neue Module baut. Jeder von ihnen hatte eine Geschichte – und oft war diese Geschichte voller Schmerz und Verlust.
Das Verrückte ist: Ich habe das Gefühl, dass Leute wie Ayşe oder Lukas mehr mit mir gemeinsam haben als viele Menschen hier aus Neo-Tokio. Vielleicht liegt es daran, dass wir alle irgendwie Außenseiter sind – Menschen, die versuchen, in einer Welt zu überleben, die uns ständig an den Rand drängt.
Aber manchmal frage ich mich auch: Warum kommen all diese Leute hierher? Ist Neo-Tokio wirklich so etwas wie ein Zufluchtsort? Oder ist es einfach nur ein weiterer Ort, an dem das Chaos regiert? Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß: Diese Begegnungen verändern mich. Sie zeigen mir neue Perspektiven und erinnern mich daran, dass die Welt größer ist als diese Stadt.
Vielleicht sollte ich eines Tages selbst reisen – raus aus Neo-Tokio und rein in die Welt. Aber bis dahin werde ich weiter durch diese Straßen laufen und sehen, wen ich als Nächstes treffe.
Bis bald, Renn
26. März 2090
Ich habe heute darüber nachgedacht, wie ich meine Freizeit verbringe – und vor allem, welche Medien ich konsumiere. Es ist verrückt, wie viel sich verändert hat. In einer Stadt wie Neo-Tokio ist Unterhaltung nicht nur Ablenkung, sondern oft auch eine Flucht vor der Realität. Und ich muss zugeben: Ich bin ein Junkie für alles, was mit Cyberpunk zu tun hat. Klingt ironisch, oder? Als würde ich mir selbst einen Spiegel vorhalten.
Wenn ich abschalten will, schaue ich Serien wie Altered Carbon oder Cyberpunk: Edgerunners. Altered Carbon hat mich umgehauen – die Idee, dass man seinen Geist in neue Körper übertragen kann, ist faszinierend und beängstigend zugleich. Und Edgerunners? Das fühlt sich an wie meine eigene Welt: Straßenkämpfer, kybernetische Implantate und die ständige Frage, ob man sich selbst verliert, wenn man immer mehr Maschine wird.
Aber es sind nicht nur neue Produktionen. Ich liebe auch die Klassiker: Matrix, Blade Runner und Ghost in the Shell. Diese Filme haben etwas Zeitloses an sich – sie zeigen eine Welt, die düster und doch voller Möglichkeiten ist. Manchmal frage ich mich, ob die Leute damals geahnt haben, wie nah wir heute an diesen Visionen sind.
Das Beste? Interaktive Filme und VR-Erlebnisse. Es gibt dieses Spiel namens CuberPunk 2090, das mich total gefesselt hat. Du tauchst in eine virtuelle Welt ein und entscheidest selbst, wie die Geschichte weitergeht. Es ist fast so, als würdest du selbst Teil eines Films sein – und manchmal fühlt es sich echter an als das Leben hier draußen.
Aber Medien sind mehr als nur Unterhaltung für mich. Sie sind Inspiration. Oft schaue ich mir diese Geschichten an und denke: Was kann ich daraus lernen? Wie kann ich meine eigenen Projekte verbessern oder meine Skills als Netrunner erweitern? Es ist seltsam – aber manchmal finde ich in diesen fiktiven Welten Antworten auf echte Fragen.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich so viel Zeit damit verbringe. In einer Stadt wie dieser musst du irgendwie träumen können – auch wenn die Träume aus Neonlicht und kybernetischen Albträumen bestehen.
Bis morgen, Renn
27. März 2090
Manchmal frage ich mich, wie meine Eltern es geschafft haben, in dieser Welt so friedlich und spirituell zu bleiben. Sie waren Anhänger des Sufismus – einer mystischen Strömung im Islam, die von Liebe, Hingabe und der Suche nach Gott geprägt ist. Während andere hier in Neo-Tokio um Macht, Geld oder Überleben kämpfen, lebten sie nach ganz anderen Prinzipien: Pazifismus, innerer Frieden und die Idee, dass Gott überall ist – sogar in den dunkelsten Ecken dieser Stadt.
Ich erinnere mich an die Geschichten, die sie mir erzählt haben. Mein Vater sprach oft von Rumi, dem großen Dichter und Mystiker. „Sei wie ein Baum“, sagte er einmal. „Verwurzele dich tief in der Erde, aber strecke dich immer dem Himmel entgegen.“ Damals habe ich das nicht wirklich verstanden. Heute denke ich oft darüber nach – besonders wenn ich sehe, wie diese Stadt Menschen zerbricht.
Meine Mutter war genauso. Sie glaubte daran, dass jede Seele einen Funken Göttlichkeit in sich trägt. „Es gibt Schleier zwischen uns und Gott“, sagte sie oft. „Aber keinen zwischen Gott und uns.“ Sie wollte immer, dass ich diesen Funken finde – dass ich über die Technologie und den Lärm hinausblicke und erkenne, was wirklich wichtig ist.
Aber ehrlich gesagt… ich habe mich von dieser Spiritualität entfernt. Diese Stadt macht es schwer zu glauben, dass Frieden möglich ist. Hier geht es ums Überleben – nicht um Meditation oder Gebete. Und doch merke ich manchmal, dass ihre Lehren tief in mir verankert sind. Wenn ich durch die Straßen laufe und die Gewalt sehe, spüre ich diesen inneren Konflikt: Soll ich kämpfen? Oder soll ich versuchen, etwas anderes zu finden – einen Weg, der nicht durch Blut führt?
Ich frage mich auch oft: Würden meine Eltern stolz auf mich sein? Ich bin kein Sufi wie sie. Ich hacke Systeme, modifiziere Cyberware und tauche in virtuelle Welten ein – weit weg von der Spiritualität, die sie mir beibringen wollten. Aber vielleicht gibt es doch eine Verbindung. Vielleicht suche auch ich nach etwas Größerem – nach einer Wahrheit, die über all das hinausgeht.
Heute habe ich ein altes Buch gefunden, das mein Vater mir hinterlassen hat: eine Sammlung von Rumi-Gedichten. Ich habe ein bisschen darin gelesen und bin bei einem Vers hängen geblieben:
„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“
Vielleicht sollte ich diesen Ort suchen – nicht nur für mich selbst, sondern auch für diese Stadt.
Bis morgen, Renn
28. März 2090
Ich denke oft darüber nach, was ich esse und wie ich esse. In Neo-Tokio ist Essen nicht nur Nahrung, sondern oft auch eine Überlebensfrage. Als Netrunner habe ich nicht viel Zeit, um lange zu kochen, und die meisten Restaurants hier sind entweder teuer oder bieten nur Fast Food an – das ist nicht gerade gesund.
Mein Lieblingsessen ist ein einfaches, aber leckeres Gericht: Street-Food-Wraps mit scharfem Hühnchen und Gemüse. Es gibt einen Stand in der Nähe meines Apartments, der die besten Wraps der Stadt macht. Der Typ, der sie verkauft, ist ein alter Freund – er kennt mich seit Jahren und gibt mir immer ein bisschen extra Sauce.
Eine Delikatesse für mich ist etwas Seltenes: frischer Fisch aus dem Schwarzmarkt. Es ist teuer, aber wenn ich es mir leisten kann, kaufe ich mir manchmal ein Stück. Es erinnert mich daran, dass es in dieser Stadt noch echte Dinge gibt – nicht nur synthetisches Zeug.
Ich koche selten selbst, aber wenn ich es tue, mache ich oft einfache Gerichte wie Nudeln oder Reis mit Gemüse. Es ist nicht viel, aber es reicht. Manchmal gehe ich auch in ein neues Restaurant, das ich entdeckt habe – es heißt Neo Shinjuku Atsushi und bietet ein Cyberpunk-Erlebnis mit futuristischen Gerichten wie retort-verpackten Hamburgern. Es ist nicht mein tägliches Essen, aber es ist ein cooles Abenteuer.
Heute habe ich mich entschieden, draußen zu essen. Der Stand war geschlossen, also bin ich in ein kleines Café gegangen, das vegane Burger anbietet. Es war okay – nicht so gut wie meine Wraps, aber es hat gereicht.
Ich denke, das ist das Schöne an Essen in Neo-Tokio: Es ist immer ein Abenteuer. Man weiß nie, was man findet oder wie es schmeckt. Aber das macht es auch so lebendig.
Bis morgen, Renn
29. März 2090
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich wusste, dass ich ein Netrunner werden wollte. Es war nicht geplant – eher ein Zufall, der mein Leben verändert hat. Aber vielleicht sind es genau diese Zufälle, die uns zu dem machen, was wir sind.
Damals war ich noch ein Kind, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Mein Vater hatte eine kleine Werkstatt, in der er alte Cyberware reparierte. Er war kein Hacker, aber er verstand Technik und hatte ein Händchen dafür, kaputte Dinge wieder zum Laufen zu bringen. Ich habe ihm oft zugesehen, wie er mit seinen Werkzeugen arbeitete – konzentriert und ruhig, als wäre jede Schraube und jedes Kabel ein Puzzle, das er lösen musste.
Eines Tages brachte ein Kunde ein kaputtes Cyberdeck mit. Es war alt und verrostet, aber ich konnte sehen, dass es etwas Besonderes war. Mein Vater hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, also nahm ich es mir vor. Ich habe Stunden damit verbracht, die Teile auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Und als es endlich funktionierte… fühlte es sich an wie Magie.
Ich weiß noch, wie ich das Deck zum ersten Mal benutzt habe. Es war wie eine Tür zu einer anderen Welt – eine Welt voller Datenströme und virtueller Landschaften. Ich konnte sehen, wie Informationen flossen, wie Netzwerke miteinander verbunden waren. Es war überwältigend und faszinierend zugleich.
Aber der Moment, der alles veränderte, kam später. Ich hatte herausgefunden, dass ein Megakonzern in unserer Nachbarschaft illegale Experimente durchführte – Tests an Menschen mit billiger Cyberware. Die Leute wurden krank oder starben sogar daran. Ich wusste, dass ich etwas tun musste.
Mit meinem Cyberdeck habe ich mich in ihr Netzwerk gehackt. Es war das erste Mal, dass ich wirklich Angst hatte – die Firewalls waren stark und die Überwachungssysteme gnadenlos. Aber irgendwie habe ich es geschafft, ihre Daten zu extrahieren und sie an eine lokale Nachrichtenagentur weiterzugeben. Die Experimente wurden gestoppt, und der Konzern zog sich zurück.
Seit diesem Tag wusste ich: Das ist es, was ich tun will. Nicht nur hacken um des Hackens willen – sondern um etwas zu verändern. Um die Mächtigen herauszufordern und den Schwachen eine Stimme zu geben.
Natürlich ist es nicht immer so heroisch. Manchmal hacke ich einfach nur Systeme für Geld oder um meine eigene Haut zu retten. Aber jedes Mal, wenn ich mein Deck einschalte und in den Cyberspace eintauche, erinnere ich mich daran: Es gibt immer eine Chance, etwas Gutes zu tun – auch in einer Welt wie dieser.
Bis morgen, Renn
30. März 2090
Es gibt Tage, an denen ich mich frage, wer ich wirklich bin – nicht nur als Netrunner, sondern als Mensch. Heute war so ein Tag. Ich habe mich hingesetzt, mein Cyberdeck ausgeschaltet und versucht, in mich zu gehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich in letzter Zeit wieder an meine Eltern denke. Sie waren so anders als ich – oder vielleicht bin ich es, der anders ist.
Meine Eltern waren Sufis. Sie glaubten an den Weg der Liebe, des Friedens und der Spiritualität. Für sie war das Leben eine Reise zu Gott, und alles, was wir tun, sollte uns näher zu diesem Einssein führen. Ich erinnere mich noch an die Abende, an denen sie Dhikr praktizierten – das Gedenken Gottes. Sie saßen zusammen, wiederholten Verse und ließen sich von einer Art innerem Frieden tragen, den ich nie ganz verstanden habe.
Ich dagegen? Ich tauche in Netzwerke ein, hacke Firewalls und navigiere durch Datenströme. Meine Welt ist laut, chaotisch und voller Konflikte. Aber manchmal frage ich mich: Ist das wirklich so anders? Meine Eltern suchten nach Wahrheit – und irgendwie tue ich das auch. Nur dass meine Wahrheit nicht in Gebeten oder Meditation liegt, sondern in den Geheimnissen dieser Stadt, versteckt hinter verschlüsselten Codes und digitalen Mauern.
Und doch… fühle ich mich oft weit entfernt von dem, was sie mir beigebracht haben. Mein Vater sagte immer: „Die größte Schlacht ist die gegen dein eigenes Ego.“ Aber hier draußen kämpfe ich gegen ganz andere Dinge – gegen Konzerne, gegen Ungerechtigkeit, gegen die Dunkelheit dieser Stadt. Vielleicht habe ich mein Ego längst verloren oder es so tief begraben, dass ich es nicht mehr spüre.
Manchmal frage ich mich auch: Würden sie stolz auf mich sein? Sie waren Pazifisten, Menschen, die an Veränderung durch Liebe glaubten. Und ich? Ich hacke Systeme und nehme Risiken auf mich, die oft mit Gewalt enden könnten – wenn nicht für mich, dann für andere. Aber vielleicht würden sie verstehen. Vielleicht würden sie sehen, dass ich auf meine eigene Weise versuche, etwas zu bewirken.
Heute habe ich ein Gedicht von Rumi gelesen, das mein Vater mir früher oft vorgelesen hat:
„Du bist nicht ein Tropfen im Ozean. Du bist der gesamte Ozean in einem Tropfen.“
Vielleicht erinnert es mich daran, dass es mehr gibt als diese Stadt und ihre Kämpfe – dass tief in mir etwas Größeres steckt. Etwas von ihnen.
Bis morgen, Renn